Projekte

The Tower of Babel

Im Rahmen des 40. Internationalen Musikfest im Wiener Konzerthaus unternimmt das Klangforum Wien mit zwei Konzerten am 18. und 19. Juni 2023 die Vermessung einer Landkarte des Neuen in der Musik im postsowjetischen Raum. Das Programm vereint künstlerisch kompromisslose Positionen aus Armenien, Belarus, Estland, Georgien, Kasachstan, Lettland, Russland und der Ukraine.

Riesige Schatten liegen auf den vielen Szenen Neuer Musik des postsowjetischen Territoriums, das aktuell einmal mehr Schauplatz gewalttätiger, geopolitischer Auseinandersetzungen ist. Das Fluidum eines vollkommen natürlich empfundenen Dialogs maßgeblicher Komponist:innen und Interpret:innen zwischen Tbilisi und Minsk, Eriwan und Moskau, Taschkent und Kyiv ist zum Stillstand, der Dialog zum Erliegen gekommen. Musik läuft wieder einmal Gefahr auf nationale Selbstbehauptung und zum Propagandaschild vermeintlicher Überlegenheit reduziert zu werden. Widerstand ist gegen eine solche Instrumentalisierung angesagt. Das Klangforum Wien will mit seinem mehrteiligen Projekt „The Tower of Babel – der Turm zu Babel“ einen Beitrag dazu leisten.

Bereits in den späten 1970er Jahren formierte sich eine kulturelle Auflehnung gegen den sowjetischen Kolonialismus, vor allem in den damaligen Szenen Neuer Musik. Musik, als die abstrakteste der Künste, war von den jeweiligen Regimes am wenigsten vereinnahmbar und Hort des unabhängigen wie freien Denkens. Man erinnere sich nur an die verborgene aber um nichts weniger wirksame Arbeit der sogenannten „Kyiv avant-garde“, oft auch „illegitime Kinder Weberns“ genannt, oder an Gija Kantscheli, der als Komponist im georgischen Tbilisi einen damals vollkommen verpönten Schönheitsbegriff in die Musik brachte oder den ebenfalls aus Georgien stammenden Mikheil Shugliashvili, der „Xenakis‘sche“ Blöcke aus der archetypischen Musiktradition seines Landes herausgebrochen hatte. Unzählige Positionen vom Baltikum nach Usbekistan, von Armenien nach Belarus und selbstverständlich auch im russischen Epizentrum Moskau waren im gegenseitigen Austausch und geeint darin, das Freie in der Musik von niemandem und nichts beschneiden zu lassen.

Radikale Selbstbefragung der Künstler:innenschaft und Auflehnung gegen die Kastration künstlerischer Freiheit sind in diesem kulturellen Großraum von besonders ausgeprägter Tradition und reichen weit zurück. Dies wird im bahnbrechenden Buch »Vechi« (als »Wegzeichen. Zur Krise der russischen Intelligenz« 1990 im Eichborn Greno Verlag in deutscher Sprache wieder aufgelegt) ebenso unerbittlich wie faszinierend auf den Punkt gebracht wie 65 Jahre später durch russische Exilant:innen in einem in Paris erschienenen Essayband mit dem vieldeutigen Titel »Из-под глыб« (wörtlich »Von unter den Felsbrocken«, in deutscher Übersetzung »Stimmen aus dem Untergrund«) – der Widerstand liegt im Verborgenen, kann aber von keinem Felsen erdrückt werden.

Thomas Hirschhorn, "Abschlag", 2014
; 'Manifesta 10', General Staff Building, Hermitage Museum, St. Petersburg, 2014; 
Courtesy of the artist and Manifesta Foundation, Amsterdam Photo: Alexander Kutishchev
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Disparat, bruchstückhaft und von glühend subkutaner Energie war und ist das Avant-la-garde-Sein in diesem Teil der Erde. Viel davon ist im Orkus der Geschichte verschwunden. Diesem Verschwinden und gleichzeitigem Dasein hat der Schweizer Künstler Thomas Hirschhorn mit seinem »Abschlag« für die Kunstbiennale Manifesta 10 in der Hermitage von St. Petersburg 2014 ein Denkmal gesetzt. Monumental und dramatisch kommt diese Arbeit daher. Sie spricht von Wahrhaftigkeit und von nicht eingelösten Versprechungen, von Dystopie und Utopie und vor allem auch von jener schöpferischen Kraft, die ästhetische Spitzfindigkeiten und politische Dogmen hinter sich lässt.

Vor diesem Hintergrund und vor den Koordinaten eingeschlagener Avantgarde-Pflöcke entwirft das Klangforum Wien gemeinsam mit seinem Partner Wiener Konzerthaus eine Landkarte des Neuen in der Musik im heutigen postsowjetischen Raum, die in gebotener Selbstverständlichkeit künstlerisch kompromisslose Positionen aus Estland, Armenien, Kasachstan, Georgien, Lettland, Russland, Belarus und der Ukraine aufzeigt. Wie ein „Turm zu Babel“ soll das Projekt aus dieser aktuell so geschundenen Kulturlandschaft hervorragen: vielstimmig, nach wie vor utopisch und als Zufluchtsort wie Aussichtspunkt gleichermaßen strahlen.

Text: Peter Paul Kainrath, Intendant des Klangforum Wien

Ein Projekt initiiert durch das Klangforum Wien und das Wiener Konzerthaus, koproduziert mit AFF Projects.

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Resümee - Nachklang

Zwei Konzerte, zwei Gesprächsrunden – der Tower of Babel als neues Projekt des Klangforum Wien, gemeinsam mit dem Wiener Konzerthaus und mit der Unterstützung von AFF Projects aus der Taufe gehoben, ging der Frage nach, wie es um die Szenen Neuer Musik in den ehemals sowjetischen Territorien steht. Der Turm zu Babel steht dabei für die babylonische Sprachverwirrung und das Scheitern eines transnationalen Kulturraumes. Das illustrierende Bild des Schweizers Thomas Hirschhorn "Abschlag" schärft diesen Blick auf die uneingelösten Versprechen der sowjetischen Avantgarde. Der Begriff des „Postsowjetischen“ als rein historischer Zeitbegriff ist nicht mehr wertfrei zu verwenden und wurde von allen Komponist:innen als kolonialistische Geißel vehement abgelehnt; die eigenen Identitäten ständig aus dieser historischen Perspektive heraus definieren zu müssen, wurde als vollkommen inadäquat beschrieben. Bereits zu Zeiten der sowjetischen Gewaltherrschaft mussten Künstler:innen ihre eigenen, individuellen Identitäten im Widerspruch zur herrschenden Klasse definieren und entwickeln. Dies gilt in den aktuellen Kriegszeiten mehr denn je und die eigenen polyglotten künstlerischen Positionen sahen sich plötzlich einem dunklen Provinzialismus gegenüber, der von Moskau aus weit abstrahlt.

Es fiel der Begriff eines öffentlichen, assistierten Selbstmordes einer ganzen Gesellschaft, der sogartig alles Weltoffene verschluckt und die Idee ein Teil Europas zu sein, als naive Illusion beschreibt.

Die aufgeführten Werke haben das Neue in der Musik in all ihrer Vielschichtigkeit gezeigt – unverwechselbar, unterschiedlich und höchst avanciert. Die Gespräche waren offen und zwischen den Komponist:innen verschiedenster Herkünfte ohne jegliche Berührungsängste. Das Klangforum Wien betrachtet diesen ersten Tower of Babel als Ausgangspunkt zu weiteren Erkundungen und wird sich noch entschlossener als bisher dafür engagieren, all diesen Stimmen Gehör zu verschaffen und eine Bühne zu geben.

Programm

-> The Tower of Babel I (18. Juni 2023)
-> The Tower of Babel II (19. Juni 2023)

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Ein Projekt initiiert durch das Klangforum Wien und das Wiener Konzerthaus, koproduziert mit AFF Projects.

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