Riesige Schatten liegen auf den vielen Szenen Neuer Musik des postsowjetischen Territoriums, das aktuell einmal mehr Schauplatz gewalttätiger, geopolitischer Auseinandersetzungen ist. Das Fluidum eines vollkommen natürlich empfundenen Dialogs maßgeblicher Komponist:innen und Interpret:innen zwischen Tbilisi und Minsk, Eriwan und Moskau, Taschkent und Kyiv ist zum Stillstand, der Dialog zum Erliegen gekommen. Musik läuft wieder einmal Gefahr auf nationale Selbstbehauptung und zum Propagandaschild vermeintlicher Überlegenheit reduziert zu werden. Widerstand ist gegen eine solche Instrumentalisierung angesagt. Das Klangforum Wien will mit seinem mehrteiligen Projekt „The Tower of Babel – der Turm zu Babel“ einen Beitrag dazu leisten.
Bereits in den späten 1970er Jahren formierte sich eine kulturelle Auflehnung gegen den sowjetischen Kolonialismus, vor allem in den damaligen Szenen Neuer Musik. Musik, als die abstrakteste der Künste, war von den jeweiligen Regimes am wenigsten vereinnahmbar und Hort des unabhängigen wie freien Denkens. Man erinnere sich nur an die verborgene aber um nichts weniger wirksame Arbeit der sogenannten „Kyiv avant-garde“, oft auch „illegitime Kinder Weberns“ genannt, oder an Gija Kantscheli, der als Komponist im georgischen Tbilisi einen damals vollkommen verpönten Schönheitsbegriff in die Musik brachte oder den ebenfalls aus Georgien stammenden Mikheil Shugliashvili, der „Xenakis‘sche“ Blöcke aus der archetypischen Musiktradition seines Landes herausgebrochen hatte. Unzählige Positionen vom Baltikum nach Usbekistan, von Armenien nach Belarus und selbstverständlich auch im russischen Epizentrum Moskau waren im gegenseitigen Austausch und geeint darin, das Freie in der Musik von niemandem und nichts beschneiden zu lassen.
Radikale Selbstbefragung der Künstler:innenschaft und Auflehnung gegen die Kastration künstlerischer Freiheit sind in diesem kulturellen Großraum von besonders ausgeprägter Tradition und reichen weit zurück. Dies wird im bahnbrechenden Buch »Vechi« (als »Wegzeichen. Zur Krise der russischen Intelligenz« 1990 im Eichborn Greno Verlag in deutscher Sprache wieder aufgelegt) ebenso unerbittlich wie faszinierend auf den Punkt gebracht wie 65 Jahre später durch russische Exilant:innen in einem in Paris erschienenen Essayband mit dem vieldeutigen Titel »Из-под глыб« (wörtlich »Von unter den Felsbrocken«, in deutscher Übersetzung »Stimmen aus dem Untergrund«) – der Widerstand liegt im Verborgenen, kann aber von keinem Felsen erdrückt werden.