Das Klangforum Wien wurde 1985 von Beat Furrer unter dem Namen Société de l’Art Acoustique gegründet. Ab 1992 wurde es sehr erfolgreich von Peter Oswald geleitet. Sie übernehmen nun die Intendanz von Sven Hartberger. Was verbinden Sie mit den einzelnen Persönlichkeiten?
Peter Paul Kainrath: Beat Furrer ist für mich eine der stärksten Stimmen in der Neuen Musik, ich empfand ihn schon vor der Klangforum-Zeit in meiner Wahrnehmung als prägend. Es ist natürlich grandios, dass diesem Ensemble eine derart maßgebliche schöpferische Stimme als Gründer in die Geschichte eingeschrieben ist. Sven Hartberger hat das Ensemble am längsten geleitet. Ich konnte die ensemblestrategischen Aspekte des Klangforums kennenlernen, da er mir als Sparring-Partner in den ganzen Verhandlungen im Rahmen der Festivals – wie des Festivals Klangspuren –, die ich kuratierte, gegenüberstand. Er war ein brillanter Intendant und ein eloquenter Manager. Peter Oswald erwähne ich deshalb immer gerne als eine prägende Figur für mich, weil ich ihm auch als künstlerischer Leiter der Klangspuren Schwaz begegnet bin. Er war für mich immer ein Vorbild. Er hatte die Fähigkeit, über Neue Musik und komplexeste Entwicklungen innerhalb der Neuen Musik in einer Art und Weise zu sprechen, dass sie auch in jenen, die nicht unbedingt vom Fach sind, Begeisterung hervorruft. Er hat das Klangforum nach der Gründungsphase groß gemacht, hat immer groß gedacht. Was wäre die Neue Musik ohne das Label „KAIROS“? Mit seinem feurigen Enthusiasmus, gepaart mit einer hohen Kenntnis um das Neue in der Musik, war er eine Leuchtfigur für mich.
„Ich nenne [das] Genre eine echte zivilisatorische Leistung.“
Das Klangforum Wien ist ja ein sogenanntes Solisten-Ensemble. Diese Bezeichnung könnte auf den ersten Blick auch ein bisschen widersprüchlich wirken. Was sind denn noch spezifische Besonderheiten dieses Ensembles?
Peter Paul Kainrath: Die Bezeichnung Solisten-Ensemble ist in keiner Weise ein Widerspruch, sondern der Anspruch, in jedem einzelnen Detail die höchstmögliche Qualität zu erreichen. Wir sind stolz, dass wir jede einzelne Note auf diesem solistischen Niveau darbieten können. Weil sich alle Solistinnen und Solisten für das Neue in der Musik im selben kompromisslosen Maß engagieren, ist es klar, dass sie auch für sich Verantwortung tragen. Die letzten zwei Jahre nach der Ernennung zum Intendanten konnte ich mich stufenweise einarbeiten und war schwer beeindruckt von den regelmäßigen Plenen, bei denen das gesamte Ensemble über den Stand der Dinge informiert wird und darüber berät. Das betrifft nicht nur künstlerische Aspekte, sondern auch strategische Überlegungen. Ich nenne die Offenheit und intellektuelle Bestimmtheit des Ensembles, frei über Leistung und Qualität zu sprechen gerne, etwas verkürzt dargestellt, eine echte zivilisatorische Leistung. Es wird nicht persönlich aufgenommen, sondern immer nur dahingehend, dass das Gesagte allen gemeinsam nützt. Dieser Aspekt hat mich menschlich sehr beeindruckt.
„Wir werden immer wieder Pionierarbeit leisten, so wie wir dies auch am Anfang unseres Wirkens getan haben.“
Sie plädierten 2018 in einem Gespräch mit der Tiroler Tageszeitung über Festivals für einen „Sinn für Zukunft“. Wie sehen nun konkret Ihre zukünftigen spartenübergreifenden Projekte und Ideen zur Erschließung neuer Räume als Intendant des Klangforums Wien aus?
Peter Paul Kainrath: Das Klangforum Wien wird in diesem Jahr 35 Jahre alt oder auch jung.
Wir müssen in diesem Sinne zu neuen Horizonten aufbrechen und ich sehe die Rolle des Klangforums Wien auch als Brückenbauer in den philharmonischen Bereich hinein. Ich sage gerne, sozusagen als Untertitel zur Bezeichnung unseres Ensembles: „Wir sind das Kompetenzensemble des Neuen in der Musik der letzten hundert Jahre.“ Wir beginnen also bei Gustav Mahler und lassen ihn bis in unsere Tage hineinwirken – und beschäftigen uns natürlich auch damit, was heute und morgen geschaffen wird. Es scheint mir jetzt der Moment zu sein, in dem das sogenannte philharmonische Publikum neben einem Beethoven-Zyklus, neben einem Schubert-Zyklus eigentlich das komplementäre Bild – und das ist das Neue aus einer anderen Epoche – dazu hören kann und erfahren will. Da wollen wir in neue Bereiche vordringen. Das bringt uns auch in unserer Spielkultur weiter. Es ist eine inhaltlich sehr interessante Auseinandersetzung.
Mein erster Zyklus nennt sich plakativ „Kraftraum“, etwas sehr positiv Konnotiertes. Ich bin der Meinung, dass in diesem obsessiven Beethoven-Jahr, das wir gerade durchwaten und in dem Beethoven als starke Persönlichkeit beschrieben wird, auch die Neue Musik von uns als ein Kraftgenerator betont werden sollte. Wir werden unsere Musik in andere Bereiche hineintragen und eine Terra incognita betreten: einerseits im klassischen Musikbetrieb durch die Kommunikation mit dem philharmonischen Publikum, andererseits auch geografisch gedacht. Eine größere Sichtbarkeit zum Beispiel auch in Asien ist um vieles schwieriger als hier in Österreich. Der Begriff der Neuen Musik existiert dort eigentlich nicht oder es gibt noch sehr große Vorurteile. Wir werden immer wieder Pionierarbeit leisten, so wie wir dies auch am Anfang unseres Wirkens getan haben.
Im März werden wir zum Tongyeong International Music Festival in Südkorea reisen, Michael Sturminger wird Bruno Madernas „Satyricon“ neu inszenieren. Mitte Mai werden wir dann in Peking beim Beijing Modern Music Festival auftreten. Im September möchten wir noch nach Schanghai, 2022 steht Tokio auf dem Programm. Wir werden noch abwarten müssen, welche Kollateraleffekte der ökonomische Schaden durch den Coronavirus nach sich zieht. Denn wir wissen leider, dass das Neue und die Kultur oft das Erste sind, das finanziell gekürzt wird. Ich war in letzter Zeit doch sehr oft in China und es ist unglaublich beeindruckend, mit welcher Selbstverständlichkeit dort Hardware wie Konzertsäle, Konservatorien oder andere Infrastrukturen gebaut werden. Bei der Software ist China noch im Entwicklungsstatus. Deshalb glaube ich, dass das ein Moment sein könnte, um Pionierarbeit zu leisten. Es gab schon Einzelaktionen, zum Beispiel vom Ensemble Modern, das vor Jahren schon einmal eine Akademie in Asien hatte. Ich hoffe wirklich auf einen Dialog mit dieser Szene.
Mit diesem globalen Anspruch wird es für uns auch interessant sein, Partner zu finden, die es uns ermöglichen können, ein „Ensemble in Residency“ zu werden. Anstatt als Veranstalter fünf Ensembles einzuladen und auch relativ viel Geld an die Reiseindustrie zu bezahlen, könnte man darauf verzichten und mit nur einem Ensemble über einen längeren Zeitraum arbeiten. Man wird dann nicht jedes Jahr mit einem Konzert zu einem Veranstalter fahren, sondern vielleicht nur alle drei Jahre – um uns dann von verschiedensten Seiten zu zeigen: mit Ensemble-Konzerten, Kammermusik und mit einem Akademie-Fenster. Ich glaube, das könnte eine interessante Strategie sein. Andererseits, wenn wir hier interkontinental denken, werden wir versuchen, Tourneen zu planen. Dann bekommt dieses Reisen wieder eine Verhältnismäßigkeit.
Kommen wir wieder zurück nach Wien und zu dem von Ihnen initiierten Konzertzyklus „Kraftraum“. Die Konzertzyklen des Klangforums Wien im Wiener Konzerthaus sind doch etwas sehr Besonderes und haben schon eine lange Tradition. Es gibt sie mittlerweile seit dreißig Jahren.
Peter Paul Kainrath: Diese Konzertzyklen im Konzerthaus sind für uns fundamental wichtig. Ich glaube, wir sind das einzige Ensemble weltweit, das in einem derart traditionsreichen und reputationshohen Haus mit einer eigenen Reihe vertreten ist. Wir haben ein begeistertes und kundiges Publikum. Es gibt heuer im Rahmen von „Kraftraum“ einige Uraufführungen, zum Beispiel von Francesca Verunelli, Sarah Nemtsov und Clara Iannotta.
Die Konzertzyklen im Konzerthaus sind vor allem auch ein Experimentierfeld für neue ästhetische Territorien, weil wir wissen, wie offen und loyal unser Publikum ist. Das Konzert mit Dorian Concept im April ist so eine Produktion. Dorian Concept ist in seinem Bereich der elektronischen Clubmusik eine Vorreiterfigur mit großem Publikum. Das sind vollkommen andere Welten, das strahlt hinein bis in die Kommunikation: Es gibt andere Vorlaufzeiten im Verkauf, eine andere Ansprache des Publikums auf Social Media. Für unser Managementteam hier sind das interessante Vorgänge, wir lernen während der Produktion eines solchen Konzertes andere Abläufe kennen. Das finde ich extrem wichtig. Ich versuche, ein wachsamer Zeitgenosse zu sein, und es geht mir auch darum zu beobachten, wohin sich das Denken entwickelt.
„Aus unserer Sicht ergibt sich so etwas wie eine ‚noamdische´ Klangforum-Academy.“
Neben langjährigen Partnerschaften und Begegnungen mit verschiedenen Kulturen setzt das Klangforum Wien auch auf die Weitergabe seines Wissens an jüngere Generationen von Musikschaffenden. Seit 2009 bietet das Ensemble die Spezialausbildung „Performance Practice in Contemporary Music“ an der Kunstuni Graz an.
Peter Paul Kainrath: Damals hat es einige überrascht, dass ein ganzes Ensemble eine Professur haben kann. Aber letztendlich gibt es ja zum Beispiel auch Streichquartette, die eine Professur haben. Konzeptionell ist das kein großer Widerspruch, wenn statt vier dann 24 Leute lehren. Uns ist es wichtig, dass wir den Studierenden unsere Welt nahebringen, wir aber auch diesen Talenten nahe sind, um eventuellen Nachwuchs zu finden. Ich habe es schon erwähnt, wir werden heuer 35 Jahre alt. Nachwuchs wird immer mehr und mehr ein Thema für uns. Unabhängig von unserer Kooperation mit der Kunstuniversität Graz stellen wir in Gesprächen mit Festivals fest, dass diese immer mehr daran interessiert sind, vor Ort ein Konzert über das Konzerterlebnis hinaus wirken zu lassen. Sie suchen von sich aus Kooperationen mit den lokalen Universitäten, ein lokales Academy-Format. Aus unserer Sicht ergibt sich so etwas wie eine „nomadische“ Klangforum-Academy.
Wir wollen nicht nur ein Konzert abliefern, sondern im Idealfall einen Dialog über mehrere Tage hinweg anbieten. Das Klangforum wird in Zukunft nicht nur die Werke der Komponistinnen und Komponisten bestmöglich zur Aufführung bringen, sondern will eben auch mehr als Übersetzer, Vermittler zur nächsten Generation von Interpretinnen und Interpreten wirken. Wir arbeiten an einer „Nomadic Klangforum Academy“.
„Nicht, dass Neue Musik erklärt werden müsste. Nein. Muss sie nicht“, zitiere ich aus der Beschreibung des Klangforum-PLUS-Vermittlungskonzeptes „Fremde Ohren oder: Wie Musiker hören“. Um was geht es da genau?
Peter Paul Kainrath: Dieses erfolgreiche Vermittlungsformat finde ich sehr gut, es stammt aus der Zeit vor mir. Gemeinsam mit dem Ensemble haben wir überlegt, das zukünftige Vermittlungsformat ab dem nächsten Zyklus neu zu gestalten. Wir werden statt „Fremde Ohren oder: Wie Musiker das hören“ im Vorfeld der Veranstaltung zu einer „Fermate“ nach dem Konzert bitten – die Fermate verstanden als ein etwas ausgedehnteres Innehalten. Ich bin der Meinung, dass Erneuerung ja auch in dem Moment stattfinden kann, wenn etwas bereits erfolgreich ist, bevor es Ermüdungserscheinungen mit sich bringt.
Und ein Wechsel in der Intendanz kann ja eine gute Gelegenheit dafür sein. Es war auch der Wunsch des Ensembles, das neu zu denken und es wird im Zyklus 2020/2021 wirken. Wir bitten im Anschluss an das Konzert in das Mozartsaal-Buffet. Es werden die Komponistin, der Komponist oder die Musikerinnen und Musiker sprechen oder eine öffentliche Person, die wir mit einer bestimmten Disziplin verbinden. Eine Direktorin oder ein Direktor eines Museums, eine Architektin oder ein Architekt, aber nicht explizit Fachleute Neuer Musik, vielmehr Menschen, die Neue Musik für ihren Kulturhorizont als wichtig empfinden. Wir möchten deren Zugang zu dem eben Gehörten in ein Gespräch fassen, da wir all das ja nicht nur für einen kleinen Kreis von Expertinnen und Experten machen.
Es gibt mittlerweile über siebzig Alben vom Klangforum Wien. Viele Aufnahmen sind auch als digitale Downloads zu finden. Wie sieht die Zukunft der Musikkonsumation im Bereich Neuer Musik aus?
Peter Paul Kainrath: Die sogenannte Alben, beim Klangforum Wien in erster Linie monografische Projekte, werden auf maßgeblichen Labels wie dem fundamentalen Partner „KAIROS“ veröffentlicht. Bei der Frage nach Alben müssen wir uns auch mit der Welt dieser neuen Streaming-Plattformen auseinandersetzen. Ist das ein Kanal für uns? Aktuell ersetzt so eine Streaming-Plattform ja einen CD-Shop. Ich habe mich mit dem Gründer von IDAGIO immer wieder ausgetauscht und er hat gesagt, dass es nicht mehr lange dauern wird, dass die gesamte Aufnahme-Literatur weltweit pausenlos zur Verfügung steht. Was kommt dann? Es braucht dann wieder eine Moderatorin bzw. einen Moderator oder die Figur einer Kuratorin bzw. eines Kurators, weil wir das Auswählen nicht nur Algorithmen überlassen können. Ich möchte gemeinsam mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Überlegungen anstellen, was diese Umbrüche für unsere Agenda bedeuten und wie wir einen kraftvollen Kontrapunkt setzen können.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Text: Michael Franz Woels für mica – music austria
Beitragsbild: Tiberio Sorvillo