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Georg Friedrich Haas — HYENA

Georg Friedrich Haas komponierte die Musik zur autobiografischen Erzählung seiner Frau – der Schauspielerin und Storytellering Mollena Lee Williams-Haas – über den harten Weg von der Alkoholabhängigkeit zur Abstinenz. Sie kämpft um die Befreiung von ihrem inneren Dämon – personifiziert in Gestalt einer Hyäne, die ihren Pfad begleitet.

Mollena Lee Williams–Haas und Georg Friedrich Haas im Gespräch über HYENA:

Georg Friedrich Haas: Seit Beginn meines Komponierens beschäftige ich mich mit der Integration von Gesprochenem in meiner Musik – vom Fragment für 29 Sprechstimmen für Schulchor 1979 bis zur Oper Morgen und Abend (eine der Hauptrollen wird von einem Schauspieler realisiert) und das kleine ICH BIN ICH für Sprechstimme und Kammerensemble (2015 bzw. 2016). Meine Frau Mollena Williams tritt professionell als Storytellerin auf. Es lag nahe, unsere menschliche Nähe für ein gemeinsames künstlerisches Projekt zu nutzen.

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Es ist eine erschreckende Erzählung. Die Hyäne wächst in der Entzugsklinik aus dem Boden und stellt sich als personifizierte Sucht heraus.
Die Presse

Mollena Lee Williams-Haas: Ich wollte nie über meinen Alkohol-Entzug sprechen. Das fühlt sich viel zu persönlich an und war gewissermaßen schon in allen Medien bis zum Überdruss durchgekaut worden. Man hatte mich zu einem renommierten Abend der Geschichtenerzähler nach San Francisco eingeladen – zum Porchlight Storytelling; und als man mich fragte, worüber ich sprechen wollte, war mein erster Gedanke, wie aus dem Nichts: „Ganz sicher NICHT über meinen Entzug.“ Natürlich hatte ich eine Riesenangst davor – und so musste ich natürlich GENAU DAS tun. Die Leute, die diese Veranstaltung moderierten, zögerten aus ganz ähnlichen Gründen; doch schließlich ertappte ich mich dabei, wie ich ihnen diese Idee einfach „verkaufen“ musste, auch wenn mir in Wirklichkeit die Vorstellung, vor anderen darüber zu sprechen, furchtbare Angst einjagte. Das Paradoxon wurde zur Triebfeder des Auftritts. Danach standen mehr als 50 Menschen Schlange, um mir persönlich davon zu erzählen, wie diese Geschichte sie berührt hatte… Menschen, die selbst auf Entzug waren oder jemand Nahestehenden hatten, der denselben Kampf durchmachte. Das war eine Erfahrung, die einen demütig werden lässt. Die Produzentin einer fantastischen Radiosendung namens „Snap Judgement“ war auch im Publikum; sie lud mich ein, meine Geschichte im Rahmen dieses Programms zu erzählen. Das brachte die Sache wiederum auf eine ganz neue Ebene. Als Georg vorschlug, daraus eine gemeinsame Arbeit zu machen, wurde mir abermals schwindlig vor Angst und alles in mir schrie förmlich: das ist eine GANZ SCHLECHTE IDEE! Aber ich wusste: genau deshalb müssen wir es tun.

Georg Friedrich Haas: Mollenas Texte sind von intensiver Qualität. Und ich weiß, wie sehr sie fähig ist, ihre Inhalte zu vermitteln. Ich weiß, wie stark ihre künstlerische Persönlichkeit wirkt. Es ist eine Herausforderung für mich, dazu einen klanglichen Rahmen zu bilden: diese existentielle Grenzsituation mittels Musik zu formulieren. Und trotzdem der Erzählung den Vortritt zu lassen.

Mollena Lee Williams-Haas: Das hast du ja zuvor schon in einigen deiner Opern umgesetzt. Auf welche Weise fühlt es sich hier anders an?

Georg Friedrich Haas: In meiner Oper Nacht war das Sprechen noch präzise komponiert: Ich notierte komplexe Sprachrhythmen und einen ungefähren Tonhöhenverlauf. In der 2003 uraufgeführten Oper Die schöne Wunde wird zwar frei gesprochen, aber meist sind es nur wenige Worte, die zu genau festgelegten Zeitpunkten erklingen müssen. Auch das Sprachtempo habe ich damals vorgeschrieben. In Bluthaus und in Koma wendete ich Techniken an, die die freie Sprache synchronisieren sollten: Schlaginstrumente steuern die Schauspielerinnen und Schauspieler, und es gibt vernetzte Sprachpartituren, in denen festgelegt wird, wo welche Sprechstimme den Satz einer anderen Sprechstimme durchkreuzen soll. In Morgen und Abend und in das kleine ICH BIN ICH kommen dann auch ausgedehnte Passagen vor, an denen längere Sätze frei innerhalb eines bestimmten Zeitraumes gesprochen werden sollen. Hier wird The Hyena fortsetzen: Ausgedehnte Textabschnitte werden frei gesprochen, die Stimme kann auf die jeweiligen Orchesterklänge spontan reagieren, langsamer, schneller, lauter, leiser werden, Konsonanten überdeutlich artikulieren usw. – Das ist möglich, weil die Sprechstimme in diesem Werk – im Gegensatz zu meinen Opern – elektronisch verstärkt sein muss.

Mollena Lee Williams-Haas: Ich glaube, das hat mir geholfen, etwas von meiner anfänglichen Angst zu zerstreuen. Als ausgebildete Schauspielerin bin ich an eine präzise Umsetzung gewohnt, an vorgegebene Szenen-Arrangements, die Koordination von gespielten Bewegungen auf der Bühne; als professionelle Geschichtenerzählerin habe ich jedoch die Freiheit, mit dem Publikum zu spielen – mit dem Timing und mit meiner eigenen Interpretation im Augenblick, um die Geschichte lebendig werden zu lassen. Ich war besorgt, dass die etwas rigidere Struktur vieles von dem, was ich am Geschichtenerzählen so liebe und was mir daran wichtig ist, also die uneingeschränkte Verbindung zum Publikum, verwässern würde. Aber nachdem ich mit dem Dirigenten Bas Wiegers gesprochen und er mir zugesichert hatte, dass er in der Lage sein würde, mich und das Orchester gemeinsam zu leiten, fühlte sich alles viel machbarer an. Ich habe dir vorgeschlagen, das Stück als einen zusammenhängenden Fluss von bausteinartig zusammensetzbaren, emotional-musikalischen Phrasen zu konzipieren, die jeden einzelnen Abschnitt der Geschichte umschließen, unterstützen und miteinander verweben, ihn auf diese Weise hervorheben und danach zum nächsten überleiten – abrupt oder sanft, je nach Bedarf. Eine emotionelle Wort-Fuge, wenn man so will. Und das hat dir auch eingeleuchtet, was mich wiederum in meiner Zuversicht bestärkt hat. Das hilft mir auch, mit der Erzählung innerlich Schritt zu halten. Ich bin da extrem verletzlich und es macht mir, ehrlich gesagt, nach wie vor wirklich Angst. Es handelt sich um eine seltsame Geschichte und ich habe großes Vertrauen ins Publikum, dass es hören will, was ich zu sagen und dass es fühlen will, was ich empfunden habe.

Georg Friedrich Haas: Für mich als Komponist ist es leichter. Die musikalische Sprache ist nicht so direkt, so eindeutig. Ich brauche keine Details zu beschreiben. Mich nicht durch Worte bloßzustellen. Die Wahrhaftigkeit des musikalischen Ausdrucks bleibt – so exhibitionistisch sie auch sein mag – immer abstrakt. Meine Aufgabe sehe ich darin, einen emotionalen Rahmen für deine Geschichte zu bilden, der dich beschützt. Eine emotionale Basis, die dich trägt.

Mollena Lee Williams-Haas: Dein Vertrauen, dass ich die Geschichte erzählen kann, hat mir letztlich genügend Mut gemacht, sie mit anderen zu teilen. Es gibt so viele Menschen auf der Welt, die mit so vielen Süchten zu kämpfen haben… so viele Leute, die Menschen lieben, die in diesen Kampf verwickelt sind. Es kommt selten vor, dass ein Leben nicht auf irgendeine Weise mit Suchtverhalten in Berührung kommt. Geschichten können die perfekte Methode sein, die Realität dieser zentnerschweren Furcht und der Schmerzen mit anderen zu teilen. Und im Falle meiner Geschichte am Ende auch die Erlösung. Es mag einem wie ein zeitgenössisches Märchen vorkommen, oder als würde man einem Abstieg in den Wahnsinn nachspüren. Ich habe in Bezug auf meine Erfahrungen die unterschiedlichsten Theorien gehört – von der Möglichkeit einer psychotischen Episode von ungewöhnlicher Dauer, über eine spirituelle Reise, spontane Gestalttherapie bis hin zur Erfahrung eines Propheten, dem die Augen für den Willen Gottes geöffnet werden. Aber wie immer die Zuhörer das auch interpretieren mögen – das hat nichts mit mir zu tun. Jeder und jede kann, wird und muss zu einer eigenen Deutung der Geschichte gelangen. So wie es auch keine zwei Menschen geben wird, die deine Musik hören und daraus dieselben Schlüsse ziehen oder dieselbe emotionelle Erfahrung damit machen, wird jeder genau das von meiner Geschichte mitnehmen, was er oder sie braucht. Ich bin nach wie vor besorgt, was dieses Projekt anlangt und darüber, wie es aufgenommen werden wird; und gleichzeitig fühle ich mich zutiefst bewegt, mich mitzuteilen, die Geschichte zu erzählen; darüber zu reden, was es bedeutet, seiner dunkelsten Seite zu begegnen und zu überleben, um davon berichten zu können.

(Mollena Lee Williams–Haas und Georg Friedrich Haas, 2016)

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A vividly described account of alcoholic addiction and rehab by the composer’s wife Mollena Lee Williams–Haas.
– The Times

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