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11.000 Saiten – ein mikrotonales Klanguniversum für 50 Klaviere

Am Anfang stand ein Traum: 50 Klaviere als ein Instrument. Georg Friedrich Haas schuf eine einzigartige Klangerfahrung, die wie ein naturgewaltiger Wind aus den Tiefen des Universums erschallt.

Mit 11.000 Saiten für 50 im Raum verteilte Klaviere im Hundertsteltonabstand und Kammerorchester erkundet Georg Friedrich Haas einen mikrotonalen Raum für 50 Pianist:innen an ebenso vielen Klavieren und ein Ensemble. Die Komposition entstand im Auftrag der Busoni-Mahler-Stiftung und wurde gefördert durch die Ernst von Siemens Musikstiftung.

Peter Paul Kainrath, Intendant des Klangforum Wien, über den Ursprung der Idee für diese Komposition: „2018 hatte ich die Gelegenheit, die Klavierfabrik Hailun im chinesischen Ningbo zu besuchen. Bevor jedes Instrument das Werk verlässt, wird es über 24 Stunden lang durchgängig von Maschinen gespielt. Und diesen Ort habe ich gesehen – da werden 100 Klaviere gleichzeitig gespielt. Ich habe sofort gedacht, dass für einen Komponisten wie Georg Friedrich Haas diese Situation hochinteressant wäre, da er einer der enthusiastischsten Befürworter der „Entfesselung“ der traditionellen Tonalität durch Mikrotonalität ist.“

Georg Friedrich Haas, der vielen als bedeutendster österreichischer Komponist der Gegenwart gilt, nahm die Herausforderung an: „Es ist eine dieser Ideen, die so verrückt sind, dass es keine andere Möglichkeit gibt als 'Ja!' zu sagen.“ Entstanden ist eine einzigartige Konzertinstallation. Mit 11.000 Saiten führt uns der Komponist in ein mikrotonales Nirvana.

Die Uraufführung in Bozen (1. August 2023) wurde von Pianist:innen zahlreicher Konservatorien und Hochschulen gemeinsam mit dem Mahler Academy Orchestra bestritten. Die erste Folgeaufführung war Teil des Festivals Wien Modern 2023: Das Klangforum Wien spielte, unter der Mitwirkung von 50 Pianist:innen der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (MDW), erstmals die Originalversion des Werks im Großen Saal des Wiener Konzerthaus (1. November 2023).

Dieses Projekt war nur dank des chinesischen Klavierherstellers Hailun Pianos, der 50 seiner Klaviere nach Europa brachte und zur Verfügung stellte, möglich zu realisieren.

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Die Konzertinstallation

Ein Traum steht hier am Anfang eines ambitionierten Projekts: 50 Klaviere gleicher Bauart werden in den Mittelpunkt einer mikrotonal gesetzten Komposition gestellt und klangfarblich durch ein Ensemble von 25 Musikern aufgefächert.

Jedes Klavier ist jeweils um exakt 2 Cent verschoben gestimmt, was dem Unterschied zwischen der temperierten Quinte und der schwebungsfreien Quinte entspricht. Der Abstand zwischen dem am höchsten gestimmten Klavier und dem am niedrigsten gestimmten Klavier beträgt 1 Halbton minus 2 Cent. Die Oktaven müssen in allen Instrumenten in gleicher Weise gestreckt sein; ein Effekt, der nur durch den Einsatz vollkommen baugleicher Klaviere erzielt werden kann. Die dynamische Bandbreite reicht von wuchtigen Klangmassen bis hin zu filigranen Klanginseln.

„Ich schreibe immer wieder Musik, die ihre volle Qualität nur in der Live-Aufführung entwickelt. Der Unterschied zwischen 11.000 Saiten von Lautsprechern und 11.000 Saiten im Konzertsaal, umgeben von 50 Klavieren und 25 anderen Instrumenten ist ungefähr so groß wie der Unterschied von einem Gewitter oder einem Hochwasser im Fernsehen oder aber in Wirklichkeit (von einem sicheren Platz aus, nahe den Naturgewalten)“, so der Komponist über die unbändige Energie seines Werks.

Uraufführung in Bozen (1. Aug. 2023)
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Konzert Layout für die Aufführung im Wiener Konzerthaus (1. Nov. 2023)
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Der Große Saal des Wiener Konzerthaus wird über die 50 Klaviere zum klanglichen Koordinatensystem, in dem sich die Mitglieder des Ensembles bewegen und sich im Verlauf des Stückes immer wieder neue Konstellationen ergeben. Das Publikum erlebt die Konzert-Installation aus ihrem Inneren, entweder sitzend oder sich frei zwischen der Installation im Raum bewegend. Je nach Aufführungsort kann die Aufstellung auch in einer Ellipse, als Oktogon o.a. vorgenommen werden. Die Pianist:innen spielen mit dem Rücken zum Publikum.

Mikrotonalität – Wie hören wir Musik?

In der Regel steigt man mit dem Ohr Leitern auf und ab – mit allen Stufen in den selben Abständen, hinauf und hinunter, links und rechts. Dem Komponisten Georg Friedrich Haas ist dies zu eng geworden. Er will fliegen und lässt das Ohr durch einen großen Raum gleiten, der anstelle von Stufen von Wellen durchzogen ist. Es ist ein schwereloses, vom Ballast statischer Konstruktionen befreites Hören.

Den Begriff der Mikrotonalität lehnt der Komponist Georg Friedrich Haas grundsätzlich ab, er ist für ihn „eigentlich falsch“. Denn mikrotonal sei schließlich alles, was nicht den 12 Tonhöhen entspricht, die wir traditionell notieren. Jedes Orchester klinge mikrotonal und darum eben erst schön. „Wenn ich als Komponist mikrotonal arbeite tue ich nicht mehr und nicht weniger, als das was ohnehin immer gemacht wird, auf eine neue Art zu organisieren“.

Eine Besonderheit des ambitionierten Instrumentariums von 11.000 Saiten ist natürlich der Einsatz einer großen Zahl von Klavieren, die anders als Streichinstrumente oder die menschliche Stimme viel weniger geeignet sind, Klangwelten außerhalb der zwölftönigen Stimmung auszuloten. Bei der großen Terz beträgt die Abweichung vom temperierten System 7 Hundertsteltöne – diese wird daher von einem sieben Instrumente entfernten Klavier gespielt. Der so entstehende Durdreiklang ist viel reiner als jener Durdreiklang, den man auf einem traditionell gestimmten Klavier hört.

Es ist eine dieser Ideen, die so verrückt sind, dass es keine andere Möglichkeit gibt als „Ja!“ zu sagen.
Georg Friedrich Haas

Über Georg Friedrich Haas

Georg Friedrich Haas
(Foto: Harald Hoffmann)

Georg Friedrich Haas, der 2023 seinen 70. Geburtstag feierte, unterrichtete an der Kunstuniversität in Graz (zuletzt als »außerordentlicher Universitätsprofessor«) und an der Musikakademie in Basel. 2013 wurde er als Professor of Music an die Columbia University in New York berufen und lehrt seitdem dort Komposition.

Haas fühlt sich einerseits in der europäischen Tradition verwurzelt und ist andererseits stark von der ästhetischen Freiheit amerikanischer Komponisten wie Charles Ives, Harry Partch, John Cage und James Tenney beeinflusst. Immer wieder verweist er zudem auf die Klangmystiken der Komponisten Giacinto Scelsi und Ivan Wyschnegradsky.

In einer im Jänner 2017 von der italienischen Musikzeitschrift Classic Voice veröffentlichten Umfrage wurden einhundert namentlich genannten Fachleuten nach der schönsten Musikkomposition seit dem Jahr 2000 befragt. Haas belegte mit großem Abstand den ersten Platz.

Sein umfangreiches Schaffen mit einer Vielzahl von Werken für großes Orchester und Kammerorchester, Instrumentalkonzerten, acht Opern, zehn Streichquartetten, vielfältiger Kammermusik, Vokalwerken etc. verbreitet sich kontinuierlich weltweit – nicht nur bei auf Neue Musik spezialisierten Veranstaltungen. Seine Kompositionen erreichen auch ein traditionell geschultes Publikum. Haas hat seine Arbeit der (in hundertprozentiger Vollkommenheit unerfüllbaren) Utopie verschrieben, eine neue Musik zu schaffen, die gleichzeitig expressiv und wohltönend ist – nicht obwohl, sondern weil sie neu ist.

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Fotos von der Uraufführung in Bozen: (c) Busoni-Mahler Stiftung/Anna Cerrato
Fotos von der österreichischen Erstaufführung in Wien: (c) Wien Modern/Markus Sepperer

Partner

Kompositionsauftrag / gefördert durch

Exclusive Project Partner: Hailun Piano Co., Ltd.

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