Was bestimmt das Leben mehr als der Gedanke an dessen Endlichkeit? Der kleine Schritt über die Schwelle am Ende – in Wahrheit eine Ewigkeit. In seinem letzten Werk Quatre chants pour franchir le seuil – Vier Gesänge, die Schwelle zu übertretenschickt der Komponist Gérard Grisey zuerst den Engel über die ominöse Schwelle, dann die Zivilisation, die Stimme und schließlich die Menschheit. Und jedes Mal erscheint die Membran zwischen Leben und Tod durchlässiger.
Claude Vivier blickt in seiner letzten Komposition Glaubst du an die Unsterblichkeit der Seele seinem Lebensende ganz direkt ins Angesicht. Und skizziert es exakt so, wie es sich wenig später ereignete – als wäre der Tod bereits ins Leben eingezogen. Bleibt also auch das Leben im Tod präsent?
Vier Frauen folgen in der Musiktheaterkreation Ich geh unter lauter Schatten den Pfaden des Übergangs, stoßen Türen zu verwandten Geistes- und Klangwelten von Giacinto Scelsi und Iannis Xenakis auf und lassen durch ihre transzendenten Übungen eine Ahnung metaphysischen Daseins im irdischen Leben aufscheinen.
Griseys »musique liminale« (Schwellenmusik) ist dabei selbst eine Art Transzendenzprodukt. Er übertritt die Grenze des Tons und macht aus dessen feinen Mikrotönen sein ganzes Vokabular. Scelsi hatte diese Reise ins ungreifbare Innere des Tons in meditativen Séancen begonnen und damit ein Terrain erschlossen, das sowohl für Grisey als auch für Xenakis wegbereitend war. In ihren Händen wird starre, begrenzende Materie weich und lebendig. Begriffe wie innen und außen oder diesseits und jenseits werden hinfällig. Spätestens Griseys Wiegenlied am Ende räumt ein, dass die drastische Kluft zwischen Leben und Tod vielleicht nur eine menschgemachte Angstchimäre ist, hinter die zu blicken wir verlernt – oder nie gelernt haben.
G. Ricordi & Co. Bühnen- und Musikverlag GmbH
Éditions Salabert, Paris
Boosey & Hawkes · Bote & Bock GmbH
Eine Produktion der Ruhrtriennale.
Foto: Jörg Brüggemann